Factcheck Eigenbeitrag

Publizist und Weltenkaiser – Wahrheit oder Macht?

Auch das Meinungsklima kennt Kipppunkte, Folgen von Tsunamis neuer Informationen.

Der australische Publizist Julian Assange hat den unverzeihlichen Fehler begangen, der breiten Öffentlichkeit das Denken und Tun einer Weltmacht, ihre Kriege und Methoden an allen Verschleierungen und Täuschungen vorbei vor Augen zu führen. Das jedem zugängliche Tatsachenmaterial ist extrem vielfältig und detailliert, von unwiderlegbarem Wahrheitsgehalt. Kriege, für „Demokratie“ und „Menschenrechte“ geführt, wurden als neokoloniale Feldzüge mit Mord und Folter enttarnt. Der seiner Kleidung entblößte Weltenkaiser sah sich außerstande, die dadurch verursachte fundamentale Änderung des öffentlichen Bewusstseins schnell rückgängig zu machen.

Nichtsdestoweniger versuchte er das. Wichtigstes Anliegen war es, den Ruf und damit die Glaubwürdigkeit des Berichterstatters zu erschüttern. Die Behauptung wurde verbreitet, das Leben Unbeteiligter und Unschuldiger sei durch die Informationen gefährdet. Außerdem handele es sich bei den veröffentlichten geheimen Dokumenten um Staatsgeheimnisse.

Die Kriegsverbrechen Schuldigen erklärten sich zu unschuldig Verfolgten, obwohl das von Wikileaks veröffentlichte Material nach einer Anklage gegen sie vor dem ICC1 ruft. Allerdings hatte der Weltenkaiser, vertreten durch George W. Bush, 2002 nach Eröffnung des „Krieges gegen den Terror“ vorausschauend die Unterschrift der Vorgängerregierung unter dem Vertrag zur Errichtung dieses Gerichtshofes zurückgezogen. Der Schirmherr der regelbasierten Ordnung steht über dem Völkerrecht.

Umgehend wurde auch die physische Jagd auf den Publizisten eröffnet. Schweden und Großbritannien, Mitglieder des Imperiums, waren behilflich; in einem dritten Land, in Ecuador, wurde ein Regierungswechsel abgewartet und wirtschaftlicher Druck eingesetzt. Dann saß der Unruhestifter endlich unschädlich zwar nicht hinter schwedischen Gardinen, aber im britischen Belmarsh.

Die Beeinträchtigung des Narratives vom demokratischen Amerika, dem Freund und Verbündeten oder wenigstens der guten sich an Recht und Gesetz haltenden Ordnungsmacht blieb. Schwierig, wenn nicht vergeblich der Versuch, den digitalen Theatervorhang wieder zuzuziehen.
Seither läuft die Kriegsmaschinerie sichtbarer2. Ihre Programmierung zu ändern wurde nicht erwogen, denn das hätte Gewinneinbußen zur Folge (gehabt).
Die Konzernmedien tun ihr Bestes, Strategien und Handlungen des Imperiums und seiner Vasallen als moralisch gerechtfertigt3 und quasi alternativlos zu verkaufen.

Doch es besteht Hoffnung.

Immer wenn das Ausmaß von Verbrechen bisher vorstellbare Grenzen überschreitet, offenbart sich die Schwachstelle aller Geheimhaltung und Manipulation; der Mensch.

Der Völkermord Israels an der Bevölkerung von Gaza stößt überraschend auf die letzten Bastionen des internationalen Rechts.
Ging die vom Weltenkaiser gewünschte Auslieferung des Publizisten an ein Geschworenengericht in Virginia den Richtern des britischen High Court denn doch zu weit? Die Zulassung der Berufung gegen die Extradition Order und die Sorge, die Revision zu verlieren, veranlassten das Imperium, dem Deal mit der Verteidigung zuzustimmen.
Das brachte dem Australiers nach endloser Gefangenschaft die Freiheit.

Was Assange von Tyrannen hält, die vorgeben, alles für das vermeintliche Wohl ihrer Opfer zu tun, hat er C.S. Lewis zitierend („Die Chroniken von Narnia“) zu anderen Zeiten unter seinen Emails mitgeteilt:
„Es ist besser, unter der Herrschaft von Räuberbaronen zu leben, als unter allgegenwärtigen moralischen Wichtigtuern.“

1 ICC = International Criminal Court (Den Haag)
2 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/zum-zusammenhang-von-krieg-und-kapitalismus-das-einmaleins-der-kriegswirtschaft  
3 https://michael-lueders.de/moral-ueber-alles/