der freitag

Staatsraison für Völkermord?

Unbegreiflich. Seit einem Jahr werden 2 Millionen Menschen vom israelischen Militär erbarmungslos bombardiert, beschossen, mit willkürlichen Befehlen von Zeltlager zu Zeltlager getrieben, werden Hilfslieferungen soweit begrenzt, dass kaum der Hungertod vermieden wird.
Seltsam unbeteiligt, mit Verständnisadressen an die Täter – obwohl jede Verhältnismäßigkeit längst ad absurdum geführt ist – berichten die deutschen Staatsmedien vom mörderischen Geschehen, dass nicht unsichtbar gemacht oder gerechtfertigt werden kann.

Dem ohnmächtigen Beobachter wird klar, dass Menschlichkeit, Zivilisation, internationales Recht 2024 ausgedient haben. Die „moderne“ technisch hoch komplexe Gesellschaft der Jetztzeit ist moralisch auf oder sogar unter dem Niveau von Stammeskriegern angelangt. Leider sind die Möglichkeiten gegenseitiger Vernichtung quasi unbegrenzt; die Holzkeule erzeugt haustiefe Trichter, die Steinaxt mäht mit einem Hieb einen Wald.

Michael Lüders hat im Freitag vom 12.09.24 die hohle Moral der Bundesregierung seziert.
(gekürzt)

In Deutschland ist das Bekenntnis zu Israel bekanntlich „Staatsräson“. Allerdings ist dieser Begriff wie Quecksilber: weder juristisch noch politisch konkret zu fassen.

Welches Israel ist gemeint?

Dahinter verbirgt sich der staatliche Wunsch nach einer gelungenen „Vergangenheitsbewältigung“. Doch den europäischen Geschichtsraum von Judenhass und Judenverfolgung auf die Palästinafrage zu übertragen, also auf einen politisch-territorialen Konflikt im Nahen Osten, ist überaus problematisch. Denn welches Israel ist gemeint, wenn von der „besonderen historischen Verantwortung“ oder dem „Existenzrecht Israels“ die Rede ist? Das Israel in den Grenzen des 4. Juni 1967, vor dem Sechstagekrieg? Oder die alles Völkerrecht ignorierende Regionalmacht Israel, die seither ein brutales Besatzungsregime ausübt, auf Kosten der Palästinenser, der Südlibanesen, der Syrer auf den annektierten Golanhöhen?

Kritik an der Politik Israels?

Die Bundesregierung hatte bereits Ende 2022 die „Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben“ beschlossen, doch harrt sie ihrer juristischen Umsetzung. Aus einem einfachen Grund: Die „Strategie“ verträgt sich nicht mit dem Grundgesetz. Entsprechend hätte sie auch vor Gericht keinen Bestand. Kern ist erneut die IHRA-„Arbeitsdefinition“ von Antisemitismus, die vor allem für kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen verbindlich eingeführt werden soll. Institutionen wie Einzelpersonen sind etwa gehalten, sich ausdrücklich zum „Existenzrecht Israels“ zu bekennen, andernfalls sie ihre finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite zu verlieren drohen. Im Klartext: Wer Kritik an Großisrael und/oder seiner mörderischen Kriegsführung übt, riskiert den Vorwurf des Antisemitismus, amtlich besiegelt, und somit sein Karriereende.

Die hiesige Erinnerungskultur ist in ihrer gegenwärtigen Form auf bestem Weg, Deutschland geistig zu verzwergen. Und sie läuft Gefahr, den Blockwart 2.0 als Gedankenwächter dauerhaft einzurichten.

Wer glaubt, über eine vermeintlich moralisch fundierte Debattenhoheit zu verfügen, verträgt keine abweichenden Meinungen und legt die Fundamente für einen autoritären Staat.