Factcheck Eigenbeitrag

Eine Million Plätze für Schutzsuchende

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Nach der „Zeitenwende“ wegen der „Bedrohung“ durch den unprovoziert aus seinem Winterschlaf erwachten russischen Bären wird „kriegstüchtig“ nach „Sondervermögen für Verteidigung“ und “Wehrdienst“ weiter untersetzt. Neu in den Medien: „Bunkerbau“. In der FAZ erschien am 6.6. der Artikel „Schutzräume mit einer Million Plätzen sollen entstehen“. „Eine Million Plätze für Schutzsuchende in U-Bahnhöfen oder Tiefgaragen, digitale Wegweiser für Bunker, Tausende zusätzliche Sirenen“ „wegen der wachsenden Kriegsgefahr“ würden benötigt. Da das Geld eher für Rüstung gebraucht wird, sollen anstelle von aufwendigem Bunkerbau vorhandene Gegebenheiten wie Bahnhöfe, Keller und Garagen kostengünstig verwendungsfähig hergerichtet werden. Die Süddeutsche Zeitung hatte zufälligerweise am 5.6. einen Beitrag zum gleichen Thema: „Uns treibt das Risiko eines großen Angriffskrieges in Europa um“; mit denselben Forderungen nach Schutzmaßnahmen für „die Bevölkerung“ veröffentlicht.

Hoffentlich denken die Verantwortlichen auch an Zubringer-Shuttles aus städtischen Außenbezirken und lassen eine besondere Waffengattung des russischen Militärs nicht außer Acht.

Die ernste Bedrohungslage für Deutschland, nach Darstellung der Staatsmedien als eine Art Naturgewalt vom imperialen Russland ausgehend, hat eine andere Ursache.

Russland ist in einer verhängnisvollen Reaktion auf die fortgesetzte Ostausdehnung der NATO, die sich auch die Ukraine einverleiben will, und den seit 2014 im Donbass tobenden Bürgerkrieg mit Tausenden toten russischsprachigen Zivilisten in sein Nachbarland einmarschiert. Russland hat allerdings niemals Deutschland oder einem anderen NATO-Mitglied den Krieg erklärt. Es hat jeweils nur als Antwort auf entsprechende Maßnahmen der EU Sanktionen gegen europäische Staaten verhängt. Die NATO und Deutschland ihrerseits haben massiv Waffen an die Ukraine geliefert, deren Soldaten ausgebildet und einschneidende ökonomische Strafmaßnahmen gegen Russland in Kraft gesetzt, „um es zu ruinieren“. Mittlerweile sind weitreichende deutsche Waffen zum Einsatz gegen Ziele im russischen Hinterland freigegeben.

Die Angst vor russischer Vergeltung ist also berechtigt und wird zunehmen. Deutschland rüstet massiv auf, stationiert ein Panzerbataillon in Litauen und denkt gemeinsam mit Großbritannien, Frankreich und Polen an den Einsatz von Truppen „zur Friedenssicherung“ in der Ukraine.

Der Bau von Unterständen für deutsche Zivilisten und der Rüstungswahn insgesamt würden obsolet, sobald Deutschland und die EU-NATO-Staaten von Aggression zu Diplomatie übergingen.

Die Bulletins der US-Nachrichtendienste erwähnen 2025 die Gefahr eines russischen Angriffs auf die NATO – und damit auf Deutschland – nicht, 2024 schlossen sie einen solchen aus. („Der Freitag“, 28.5.25); die massive europäische Aufrüstung und die Stationierung von US-Hyperschallwaffen in Deutschland 2026 könnten das ändern.

Die kognitive Kriegsführung der NATO-Medien ist erfolgreich; von breiteren Kreisen der Bevölkerung gibt es kaum Widerstand gegen den Aufrüstungswahn. Mediale KO-Tropfen, gefiltert aus Auszügen sorgfältig ausgewählter Moral- und Völkerrechtsdämpfe, erschweren den Blick auf Macht- und Kapitalinteressen. Langsame Veränderungen, die sich im täglichen Leben kaum widerspiegeln, werden nicht wahrgenommen – erst wenn nichts mehr zu machen ist. Der Frosch merkt zu spät, dass das Wasser gleich kocht, der Beamte plötzlich, dass an irgend einem Tag das Büro mit der Kaffeemaschine nicht auf ihn wartet.

Bleibt die Hoffnung, dass das von Ramon Schack in seinem Beitrag zum 150. Geburtstag von Thomas Mann auf den Nachdenkseiten erwähnte Zitat von Deutschland als dem „Amokläufer unter den Völkern“ diesmal nicht zutrifft.