Factcheck Eigenbeitrag

Die Menschenkette für Assange in London bei dpa und reuters

13.10.22

Wie Nachrichtenagenturen Ausmaß und Bedeutung von „unerwünschten“ Ereignissen herunterspielen – und Medien diese Meldungen kommentarlos verbreiten: Human Chain London 8.10.

Link zur dpa-Meldung bei Zeit Online:
https://www.zeit.de/news/2022-10/08/assange-unterstuetzer-bilden-menschenkette-in-london

Zitat:
„ZEIT ONLINE hat diese Meldung redaktionell nicht bearbeitet. Sie wurde automatisch von der Deutschen Presse-Agentur (dpa) übernommen.“
© dpa-infocom, dpa:221008-99-55241/2

Damit ist klargestellt: ZEIT ONLINE hat weder eigene Recherchen zu dem Ereignis angestellt noch wird es von der Redaktion eingeordnet oder kommentiert.
Sucht man nach der dpa-id, findet man eine große Anzahl von Lokalzeitungen und lokalen Radiostationen, die die dpa-Meldung lediglich 1:1 widergeben; bei kleinen Lokal-Redaktionen verzeihlich.

Nicht aber, wenn Presseorgane mit großer Reichweite und eigenen Abteilungen für internationale Politik wie Süddeutsche Zeitung, Rheinzeitung, Morgenpost, Berliner Zeitung und andere ebenfalls vermeiden, sich zu der eindrucksvollen Manifestation mehrerer Tausend Demonstranten (unter ihnen die Labour MPs McDonnell und Jeremy Corbyn) für die Freilassung und gegen die Auslieferung in die USA des Wikileaks-Gründers Julian Assange zu äußern. Ihnen ist die Bedeutung des Falles bewusst. Besonders bedauerlich ist die Haltung der Berliner Zeitung, die sich in diesem Kontext schon wesentlich engagierter geäußert hat.

Ergänzung:
Als Reaktion auf die Kritik in diesem Text hat die Beriner Zeitung die falsche Zahlenangabe korrigiert.

Einen realistischen Bericht über die Menschenkette mit 5-7.000 Teilnehmern am 8.Oktober in London bekommt man hier:
https://www.dailymail.co.uk/news/article-11294925/Ex-Labour-leader-Jeremy-Corbyn-Russell-Brand-join-protesters-extradition-Julian-Assange.html
https://www.wsws.org/en/articles/2022/10/08/chai-o08.html
https://consortiumnews.com/2022/10/09/world-wide-backing-as-parliament-encircled-for-assange/

Menschenkette für Assange in London
221008 DemocracyNOW!

Aber es ist nicht nur die ängstliche Zurückhaltung der Medien, mit der vermieden wird, dass das Thema „Julian Assange“ zu sehr ins öffentliche Bewusstsein rückt und sich vielleicht sogar Außenministerin Annalen Baerbock, die sich noch kurz vor der Bundestagswahl für seine Freilassung aussprach, von der bequemen Position des vorgeschobenen Glaubens an einen rechtsstaatlichen Vorgang beim von den USA angestrengten Auslieferungsverfahren distanzieren müsste.
Es ist auch die perfide Art der Formulierungen der weit verbreiteten dpa-Meldung, die zu diesem Artikel veranlasste.

Die wichtigsten kritikwürdigen Statements kurz kommentiert:

Zitat 1
„Hunderte Menschen haben vor dem britischen Parlament in London gegen die geplante Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange an die USA demonstriert.“
Bewertung
Bewusstes Fälschen der Größenordnung – es waren tausende Teilnehmer – mit dem klaren Ziel, die Bedeutung des Ereignisses herunterzuspielen

Zitat 2
„Aufgerufen zu der Demonstration hatte die Frau des 51 Jahre alten Australiers, Stella Assange, die mit ihren beiden kleinen Söhnen ebenfalls teilnahm.“
Bewertung
Es wird der Anschein eines „privaten“ Falles erweckt. Tatsächlich geht es um die Abwehr der Gefährdung der Pressefreiheit weltweit. Die Organisation der Menschenkette wäre bei deren Ausmaß ohne die Leistung eines großen Teams, der Don’t Extradite Assange Kampagne und weiterer Unterstützer aus ganz Großbritannien, unmöglich gewesen.

Zitat 3
„Die US-Justiz will Assange wegen Spionagevorwürfen den Prozess machen. Ihm drohen bei einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft. Ihm wird vorgeworfen, gemeinsam mit der Whistleblowerin Chelsea Manning geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan gestohlen, veröffentlicht und damit das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht zu haben.“
Bewertung
Es wird der Eindruck einer „berechtigten“ Anklage erweckt. Tatsächlich wurden Dokumente von US- und britischen Kriegsverbrechen veröffentlicht, was die Aufgabe eines jeden Journalisten, dem sie zur Kenntnis gelangen, wegen des öffentlichen Interesses an derartigen Informationen wäre.

Zitat 4
[Die Strafverfolgungsbehörden] hatten ihn zunächst wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Schweden gesucht. Diese Vorwürfe wurden später jedoch aus Mangel an Beweisen fallen gelassen.
Bewertung
Rückgriff auf längst widerlegte Vorwürfe (Buch: Nils Melzer, Der Fall Julian Assange, Piper, 2021). Mit diesen Verdächtigungen wurde jahrelang der Ruf von Julian Assange in der Öffentlichkeit systematisch ruiniert.

Es gibt eine weitere Nachrichtenagentur, die größte weltweit, Reuters, die ebenfalls einen eigenen, wesentlich sachlicheren Bericht zu dem Ereignis mit eigenem Bildmaterial veröffentlichte:
https://www.reuters.com/world/uk/assange-supporters-form-human-chain-uk-parliament-2022-10-08/
Eine wesentliche Falschmeldung gibt es aber auch hier:

Zitat
“Hundreds of protesters, including Jeremy Corbyn, the former leader of Britain’s opposition Labour Party, gathered in a line which stretched from parliament’s perimeter railings and snaked across nearby Westminster Bridge to the other side of the River Thames.”
Bewertung
Siehe Zitat 1. Da Reuters einen eigenen Fotografen vor Ort hatte, der das Ausmaß der Menschenkette sehen konnte, ist die bewusste Fälschung besonders kritikwürdig.

Das Verhalten von großen Pressediensten, die zudem am Anfang der medialen Informationsketten stehen, zeigt außer der Angst der USA und anderer vor einer weltweiten Aufmerksamkeit für den Fall des australischen Journalisten Julian Assange auch die Gründe für den bedenklichen Verlust an die Glaubwürdigkeit der Nachrichtendienste, Journalisten und Massenmedien.
Sauberer Journalismus sieht anders aus.