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Russland und die Ukraine – Hintergründe

Junge Welt 20./21. Januar 2024

Reinhard Lauterbach zum 100. Todestag W. I. Lenin „Realpolitiker der Revolution“
Auszüge, Überschriften, Kommentar fc

Strategische Überlegungen der Bolschewiki 1917

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Anders war es mit Gebieten, die aus damaliger russischer Perspektive unverzichtbar waren. Etwa der Ukraine. Sie war Russlands wichtigste Kornkammer, gleichzeitig die Region, in der der größte Teil der Kohle und des Eisens gewonnen wurde, die das Land für seine industrielle Entwicklung benötigte. 1917 hatte sich in Kiew eine bürgerlich-sozialdemokratische »Zentralrada« etabliert, die sich unter der Provisorischen Regierung noch mit einer losen Autonomie im Rahmen des russischen Reiches zufriedengab, deren bestimmende Kräfte aber unter dem Eindruck der Oktoberrevolution zum Separatismus übergingen.

Wenn Lenin die Ukraine, die die Bolschewiki zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht kontrollierten, den Deutschen zur Ausplünderung überließ, setzte er im Stillen darauf, die neuen Herren würden sich in der ukrainischen Bevölkerung schnell so unbeliebt machen, dass den Ukrainern die Allianz mit Russland als die vorteilhaftere Variante einleuchten würde. Genauso kam es.

Kurzlebige Marionettenregimes von deutschen Gnaden kamen und gingen, Armeen der »Weißen« fanden in der Landbevölkerung keinen Rückhalt, weil sie die Herrschaft der Gutsbesitzer zurückbringen wollten.

Ein ukrainisches Nationalbewusstsein entsteht

Was noch blieb, war die politische Herausforderung. Die »Zentralrada« hatte gezeigt, dass inzwischen ein ukrainisches Nationalbewusstsein entstanden war, das durchaus mehr war als die »Kaffeehaus-Fatzkerei«, die Rosa Luxemburg darin hatte sehen wollen. So verfolgte Lenin gegenüber der Ukraine eine Doppelstrategie, auch wenn ihm Luxemburg dies als Opportunismus ankreidete. Mit der »Fatzkerei« war praktisch zu rechnen.

Lenins Antwort: Einerseits einigte er sich mit Polen im Frieden von Riga (März 1921) de facto auf eine neuerliche Aufteilung der Ukraine nach dem Vorbild der russisch-polnischen Friedensschlüsse des 17. Jahrhunderts. Die Aufteilung war für Russland sogar vorteilhaft, weil sie die Westukraine und das dort besonders virulente Problem des ukrainischen Nationalismus Polen überließ, das mit dieser Herausforderung in den nächsten 20 Jahren weder politisch noch polizeilich fertig wurde.

Gründung der Ukrainischen Sowjetrepublik

Andererseits machte Lenin den 75 Prozent der Ukraine, die bei Russland verblieben, ein Integrationsangebot: die Gründung einer Ukrainischen Sowjetrepublik, wo es vor 1917 nur russische Gouvernements und die Rede von einem »Kleinrussland« gegeben hatte.

Diese Ukrainische Sowjetrepublik bekam als vermeintliche Dreingabe noch den ganzen Donbass, die Region um Charkow und die Schwarzmeerküste zugeschlagen – Regionen, die mehrheitlich russisch oder multinational besiedelt waren. Das geschah durchaus gegen den Willen der örtlichen Revolutionäre. Die dort im Bürgerkrieg entstandenen Sowjetrepubliken verwahrten sich ausdrücklich dagegen, in die Ukraine eingegliedert zu werden, wie sowjetisch sie auch immer sein mochte. Es half ihnen aber nichts. Denn genau so, wie sie waren: ethnisch und kulturell russisch und sozial proletarisch geprägt, sollten sie ein Gegengewicht gegen den »kleinbürgerlichen ukrainischen Nationalismus« darstellen und verhindern, dass die ukrainische Sowjetrepublik auf dumme Gedanken kam.

Es war im Grunde das, was Russland mit der Instrumentalisierung des antifaschistischen Aufstands im Donbass seit 2014 zu wiederholen versuchte – erfolglos, weil die neue Staatsmacht in Kiew lieber auf den Donbass verzichtete als auf ihre ukrainische Identitätspolitik. Was im heutigen Russland als »politische Atombombe gegen die russische Staatlichkeit« geschmäht wird, war in Wahrheit ein geschickter Schachzug, um diese russische Staatlichkeit in veränderter Form bis auf weiteres auch in der Ukraine aufrechtzuerhalten.

Stalins Fehler

Dass dieses Konstrukt siebzig Jahre später der Sowjetunion um die Ohren fliegen würde, konnte Lenin nicht voraussehen. Hätte Stalin 1939 nicht angestrebt, sich aus den Trümmern des von Nazideutschland besiegten Polens die 1920 verlorene Westukraine samt ihren eingeborenen Nationalfaschisten zurückzuholen, hätte die Entwicklung auch ganz anders verlaufen können.
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Kommentar
Dauerhafter Frieden – nicht nur in der Ukraine – scheint nur entlang der Siedlungsgebiete der Nationalitäten möglich, die durch staatliche Grenzen abgesichert sein müssen.
Erinnert sei an die Lösung des Türkisch-Griechischen Konflikts 1922 – Aussiedlung der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe in das jeweilige „Vaterland“.
Bürgerkriege sind so vermeidbar.